Schlagwortarchiv für: Essstörungen

Diesen Gastbeitrag hat mir die liebe Annika geschrieben.

 

Ich war schon immer ein unsicheres, schüchternes Kind. Zusätzlich wurde ich in meiner Kindheit schwer traumatisiert. Mit elf Jahren schon begann ich mich selbstzuverletzen.
Im Alter von 15 Jahren hörte ich auf Sport zu machen und nahm dadurch ein paar Kilo zu. Ich erhielt negative Kommentare von Freunden und Familie. Dies belastete mich sehr. Ich startete eine „Diät“ und aß nur noch höchstens 1000kcal. Dies hielt ich zwei Monate durch bis die Esssanfälle starteten. Ich hab mein komplettes Erspartes für Süßigkeiten ausgegeben und aß täglich bis zu 10000kcal. Dementsprechend nahm ich schnell noch mehr zu als ich vor der Diät wog. Es war ein schreckliches Gefühl, ich war täglich von großer Scham und Selbsthass geplagt. Ich bekam in drei Jahren lediglich 5 Kilo wieder runter.

Und dann wurde ich mit 19 stärker anorektisch, rutschte innerhalb von ein paar Monaten ins Untergewicht. Ich hatte in den folgenden Jahren Gewichtsschwankungen von etwa 10kg und bewegte mich im Untergewicht oder unterem Normalgewicht. Dabei missbrauchte ich sehr stark appetitzügelnde Medikamente und war süchtig nach diesen. Ich hatte Herzrhythmusstörungen und deshalb bei jedem Konsum Todesangst, aber der Zwang abzunehmen oder zumindest das Gewicht zu halten war stärker. Etwa einmal die Woche hatte ich einen Essanfall, ansonsten aß ich fast nur Obst, Gemüse und Jogurt.

Vor drei Jahren eskalierte es und ich nahm durch Esssanfälle in 4 Monaten 40 kg zu, ich stopfte den ganzen Tag riesige Mengen in mich hinein ohne jegliche Gegenmaßnahmen. Dieser Ekel vor mir und Selbsthass, machte mich stark suizidal und ich versuchte mehrmals mir das Leben zu nehmen.
Ein Jahr habe ich das Übergewicht ertragen und rutschte dann stärker denn je in die Anorexie, ich verlor in einem guten Jahr 53kg, komplett ohne Sport, da ich aufgrund von Ängsten und Depressionen kaum dass Bett verlassen habe. Die letzten drei Monate aß ich alle zwei Tage 150g Sojajogurt. Also fast nichts. Mein Puls war andauernd unter 40, mein Blutdruck bedrohlich niedrig und letztendlich musste ich zwangsernährt werden (wurde ich ein paar Jahre zuvor auch schon zweimal, aber immer nur für zwei Wochen).

Dieses Mal war es langwieriger, denn die Magensonde verletzte meinen Magen und zusätzlich zu dem eh schon schlechten Zustand lag ich nun auf der Intensivstation und zwei Wochen im Koma. Insgesamt war ich vier Monate im Krankenhaus, musste alles wieder lernen, sprechen, sitzen, dann irgendwann wieder laufen.
Ich war zutiefst erschüttert, was ich meinem Körper angetan habe.
Ich habe nun wieder zugenommen, man sieht nicht mehr auf den ersten Blick, dass ich eine Essstörung habe (außer dass ich so gut wie keine Haare mehr habe).

 

Trotzdem quälen mich täglich Unsicherheit, Selbsthass und noch immer die Folgen der intensivmedizinischen Behandlung, auch psychisch, denn diese Erfahrung hat mich sehr traumatisiert.
Mein Essverhalten ist noch lange nicht gesund und ich werde noch einen langen Weg vor mir haben. Oft habe ich Angst, dass ich nie gesund werde, denn ich leide ja neben der Essstörung noch an einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung, einer schweren Depression, sowie Sucht und Selbstverletzung. Die Erkrankungen bedingen sich leider alle gegenseitig, aber ich hoffe, dass ich zumindest nicht mehr in so starke Extreme abrutsche, wie es in den letzten Jahren so oft passiert ist.
Ich gebe nicht auf, denn selbst wenn ich vielleicht mein Leben lang krank bleibe, kann es ja zumindest besser werden.
Passt auf euch auf und sucht euch rechtzeitig Hilfe!🍀

 

Hier einige Fakten über Essstörungen.

Essstörungen..
..sind die psychischen Erkrankungen mit der höchsten Sterberate.
..sind mehr als „nur“ Probleme mit dem Essen.
..erkennt man nicht am Gewicht der Betroffenen.
..entstehen in den allermeisten Fällen nicht durch Serien wie „Germany‘s Next Topmodel“.
..gehen oft mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Zwangsstörung, Traumafolgestörungen oder Borderline einher.
..sind keine reinen „Frauen-Krankheiten“, etwa 25% bis 30% der Betroffenen sind Jungen oder Männer.
..verchronifizieren sich bei etwa 1/4 der Betroffenen.
..treiben min. die Hälfte der Betroffenen früher oder später zu einem Suizidversuch.

Dies sind nur ein paar grobe Fakten zu dem weit gefächerten Begriff „Essstörungen“. Hinter diesen Erkrankungen steckt viel mehr, als Hungern, Fressen oder Erbrechen. Und vor allem ist es kein seltenes Phänomen. Seit Jahren werden in Deutschland über 10.000 Menschen mit Essstörungen in Kliniken behandelt, und das obwohl nur etwa 20% der Betroffenen überhaupt stationäre Hilfe in Anspruch nehmen. Während der Pandemie hat die Anzahl der psychisch Erkrankten noch einmal zugenommen, und damit auch die Zahl der Essgestörten.

Die bekanntesten Formen von Essstörungen sind die Anorexia Nervosa („Magersucht“), Bulimia Nervosa und die Binge-Eating Störung.
Es gibt allerdings noch viele weitere diagnostizierbare Essstörungen und noch deutlich mehr Mischformen.

•Anorexia Nervosa:
– es gibt zwei Typen: Restriktiver Typ (nur Nahrungsverweigerung) oder Purging-Typ (mit selbstinduziertem Erbrechen ohne Essanfälle)
-Betroffene haben große Angst zuzunehmen

-Nahrungsverweigerung, die meistens zu einem sichtbaren Gewichtsverlust führt
-meist Angst vor besonders kalorienreichen Speisen
-oftmals starker Bewegungsdrang (z.B. zwanghaft eine bestimmte Anzahl Schritte am Tag zu erreichen), eventuell sogar große Angst überhaupt zu sitzen und zwanghaftes Stehen/Umherlaufen
-Scham vor anderen essen oder generell für den eigenen Körper
-meist kommt es zu schwerwiegenden körperlichen Folgen: Nährstoffmangel (Haarausfall, trockene Haut, brüchige Fingernägel, bis hin zu Osteoporose), Veränderung des Hormonhaushalts (Aussetzten der Menstruation, Veränderung der Schilddrüse, bei Kindern und Jugendlichen Verzögerung des Wachstums), Probleme mit dem Herzen (deutlicher zu schneller oder zu langsamer Puls, Herzrhythmusstörungen), deutlich zu niedriger Blutdruck und deswegen häufig Ohnmachten, Verlust der Muskulatur, und noch viele weitere.

  • Bulimia Nervosa:
    -Betroffene haben ebenfalls große Angst zuzunehmen
    -Betroffene leiden unter regelmäßigen, schwer kontrollierbaren Essanfällen, in denen sie deutlich mehr zu sich nehmen als vergleichbare Menschen. Sie essen meist deutlich schneller und auch unabhängig vom Hungergefühl.
    -aus Angst vor Gewichtszunahme werden Gegenmaßnahmen getroffen wie Erbrechen, Abführmittelmissbrauch, exzessiver Sport, Hungern/Fasten oder Missbrauch von Appetitzüglern
    -häufig ging der Erkrankung eine Diät oder anorektisches Essverhalten voraus und durch den Nährstoffmangel entstand extremer Heißhunger
    -es können lebensbedrohliche Mängel entstehen, vor allem an Elektrolyten (Kalium, Magnesium etc.) durch das Erbrechen oder Abführmittel. Dies kann zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen oder plötzlichem Herzstillstand führen.
    -ebenso können ähnliche Mangelerscheinungen wie bei der Anorexie auftreten.

-das Gewicht der Betroffenen verändert sich nicht zwangsläufig, der Großteil befindet sich im Normalgewicht, aber auch Unter- oder Übergewicht können vorhanden sein.

•Binge-Eating-Störung
-Betroffene leiden unter wiederkehrenden, schwer kontrollierbaren Essanfällen, in denen sie deutlich mehr zu sich nehmen als vergleichbare Menschen. Sie essen meist deutlich schneller und auch unabhängig vom Hungergefühl.
-anders als bei der Bulimie greifen sie nur sehr selten zu Gegenmaßnahmen. Deswegen nehmen sie häufig an Gewicht zu.

-körperliche Folgen können Übergewicht und damit verbundene Herz-Kreislauferkrankungen wie Bluthochdruck, Gefäßverkalkungen, bis hin zum Schlaganfall oder Herzinfarkt sein. Auch Diabetes oder Probleme mit den Gelenken oder der Beweglichkeit können eine Folge sein.

•Weitere spezifische Essstörungen:

•Orthorexia Nervosa:
– starke Fixierung auf „gesunde“ Lebensmittel
-der Fokus liegt meist nicht auf einem Gewichtsverlust, sondern auf einer zwanghaft gesunden Lebensweise

-der Unterschied zu einer normal gesunden Lebensweise ist die zwanghafte Fixierung darauf (sehr zeitaufwendige genaue Berechnung von Vitaminen, Mineralstoffen etc., streng festgelegte Regeln) und starke Schuldgefühle beim Essen von „ungesunden“ Lebensmittel oder „zu wenig“ Bewegung
-auch diese Essstörung kann zu Mangelerscheinungen und Untergewicht führen.

-bei dieser Diagnose ist noch umstritten, ob sie als Essstörung oder als Zwangsstörung gelten sollte. Diese Einordnung ist für Betroffene jedoch irrelevant, da sie einen Krankheitswert erhalten sollte, sobald ein Leidensdruck bei Betroffenen entsteht.

•ARFID (vermeidend/restriktive Essstörung)
– im Gegensatz zur Anorexie liegt der Fokus dieser Essstörung nicht auf dem Körper oder einem angestrebten Gewichtsverlust. Es liegt eine Angst oder ein Ekelgefühl dem Essen selbst gegenüber vor. Auch kann konsequent kein Interesse daran bestehen.
-oftmals entsteht diese Erkrankung schon im Kindesalter, kann aber auch später entstehen.
-Zuerst ähnelt es sehr wählerischem Essen (nur bestimmt Farben, Konsistenzen, Gerüche etc.). Jedoch kann es dazu führen, dass der Betroffene nur noch drei oder vier Lebensmittel überhaupt essen mag.
-Dies kann zu schweren Mangelerscheinungen und Wachstumsschwierigkeiten führen.

Außerdem gibt es noch diverse Mischformen. Teilweise werden Diagnosen wie „atypische“ Anorexie oder Bulimie gestellt, wenn z.B. ein Diagnosekriterium nicht vorhanden ist. Manchmal fühlen sich die Betroffenen dadurch nicht ganz ernstgenommen oder gesehen, da das Leid genauso groß ist wie bei der „typischen“ Form. Therapeuten nehmen jedoch in den meisten Fällen jede Form der Essstörung sehr ernst, denn sie bedeutet immer großes psychisches Leid und auch immer eine große Gefahr körperliche Schäden zu erleiden.
Für viele Betroffene wird der gesamte Alltag von der Essstörung bestimmt. Oftmals isolieren sie sich, aus der Angst in sozialen Situationen essen zu müssen oder vor anderen einen Esssanfall zu erleiden. Vor allem anorektische oder bulimische Betroffene investieren sehr viel Zeit in Maßnahmen zur Gewichtsabnahme, wie z.B. exzessiver, zwanghafter Sport. Betroffene mit Essanfällen verbringen meist mehrere Stunden mit Essen, teils tief in die Nacht hinein.

Gründe für eine Essstörung können vielfältig sein, oftmals besteht eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, z.B. durch die Veränderungen in der Pubertät, Kritik von Freunden oder Familie oder sogar Mobbing. Der „Einstieg“ in restriktives Verhalten ist oftmals eine Diät, aber im Inneren besteht viel mehr als lediglich der Fokus auf dem Körper selbst. Meist haben die Betroffenen ein sehr niedriges Selbstwertgefühl, fühlen sich schwach oder haben einen übertriebenen Ehrgeiz. Sie wollen „endlich mal etwas schaffen“ und projizieren diesen Wunsch dann auf den Körper. Wenn dann Komplimente von außen kommen für einen Gewichtsverlust, wird dieser Wunsch nur noch mehr bestärkt und es entsteht fast eine Sucht nach diesem bestätigenden Gefühl.

Essanfälle können dadurch entstehen, dass ein Betroffener schon seit frühester Kindheit bei schlechten Gefühlen genascht hat und sich dadurch besser gefühlt hat. Dies kann außer Kontrolle geraten und zu starken Essanfällen führen, durch die sich Betroffene meist noch schlechter fühlen und auch diesen Frust „wieder in sich hineinfressen“. Ein Teufelskreis.

Mit allen Essstörungen geht meistens ein großes Schamgefühl einher, einerseits für den Körper, andererseits für das Essverhalten selbst. Meist vergeht deswegen zu viel Zeit, bis die Essstörung entweder anderen auffällt oder der Betroffene sich selbst Hilfe sucht. In dieser Zeit manifestieren sich das Esssverhalten, die Minderwertigkeitsgefühle und meist auch der Hass auf den eigenen Körper und das eigene Verhalten.

Die Behandlung einer Essstörung nimmt meist mehrere Jahre in Anspruch. Und selbst zehn Jahre nach der ersten stationären Behandlung gelten nur etwa 50% der Erkrankten als genesen. Etwa 30-40% zeigen noch einige Symptome/Verhaltensweisen und 10-20% haben noch immer das Vollbild einer Essstörung. Bei so starker Chronifizierung steigt die Sterblichkeitsrate leider stark an.
Deshalb ist es wichtig, dass die Gesellschaft für die Symptome einer Essstörung sensibilisiert ist und es genügend frei zugängliche Hilfsangebote, wie professionelle Online-Beratung oder Beratungsstellen gibt.

Weitere Informationen und eine Liste von Beratungsstellen findet man auf:
https://www.bzga-essstoerungen.de

 

Hallo, ich bin Annika, 26 Jahre alt und das Gesicht hinter dem Account @just.breathing.in
Ich bin schon sehr lange sehr stark psychisch erkrankt, war oft in Psychiatrien und habe auch schon geschlossen wohnen müssen.
Letztendlich habe ich die letzten 3 Jahre durchgängig in der Psychiatrie „gewohnt“, weil kein einziges Betreutes Wohnen mich haben wollte. Ich habe mit der Zeit über 100 Absagen gesammelt. Der Hauptgrund für die vielen Ablehnungen waren meine psychogenen Krampfanfälle. Diese Anfälle sehen zwar epileptisch aus, sind aber oftmals nicht lebensbedrohlich und eine Form von posttraumatischem Stress.

Es war ein schreckliches Gefühl so sehr von diesem System im Stich gelassen zu werden. Außerdem wurde ich in vielen der Kliniken sehr schlecht behandelt und wurde dadurch nur noch weiter traumatisiert.

Durch diese hohe Belastung bin ich in den letzten 2 Jahren wieder sehr stark in eine Essstörung gerutscht, bis ich ein lebensbedrohliches Gewicht erreicht hatte. Mir wurde per richterlichem Beschluss eine PEG-Sonde gelegt. Diese hat sich kurz darauf gelöst und meinen Magen zerfetzt. Die klebrige Sondenkost hat sich literweise in meinem Bauchraum verteilt und hat alle Organe verklebt. Ich hatte wochenlang eine Sepsis, lag zwei Wochen im Koma und wurde insgesamt sechs mal in drei Wochen am Bauch operiert.

Nach der letzten OP mussten die Chirurgen meinen Bauch offen lassen, weil alles so sehr entzündet war, dass es sonst nicht hätte abheilen können. Ganz zugewachsen ist mein Bauch noch immer nicht und ich werde eine handgroße Narbe zurückbehalten. Insgesamt 4 Monate war ich im Krankenhaus.

Ich hatte das Glück danach auf eine Therapiestation gekommen zu sein, auf der ich das erste mal ernstgenommen wurde und mit Respekt behandelt wurde. Dort kam ich wieder sehr gut auf die Beine, im wahrsten Sinne des Wortes! Fand sogar die Kraft selbst nach passenden Wohngruppen zu suchen. Und innerhalb von ein paar Monaten habe ich das geschafft, woran alle Sozialarbeiter jahrelang gescheitert sind: Ich habe eine Wohngruppe gefunden!
Letzte Woche bin ich hier eingezogen und bin soo froh, endlich aus der Psychiatrie draußen zu sein! Es kann nur besser werden!